Das Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) hat in einer sehr knappen Entscheidung von 5:3 und mit einem abweichenden Sondervotum (was mir sehr nahe ist) entschieden, dass unter bestimmten Bedingungen auch außerhalb eines stationären Aufenthaltes in einem Krankenhaus Zwang angewendet werden darf.
Ich meine: Zwang und eine menschenrechtsbasierte Psychiatrie passen nicht zusammen!
Zwangsmaßnahmen können elementare Folgen sowohl für die seelische als auch die körperliche Gesundheit haben. Internationale Konventionen, wie die UN-Behindertenrechtskonvention, betonen das Recht auf Selbstbestimmung und Autonomie. Auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der UN-Sonderberichterstatter über Folter sprechen sich klar gegen den Einsatz von Zwangsmaßnahmen inklusive der nicht freiwilligen Gabe von Medikamenten aus. Es gibt kaum Evidenz für die Wirksamkeit von Zwangsmaßnahmen, um Selbst- und Fremdgefährdung zu reduzieren und sie führen nicht dazu, dass der Zugang zur Versorgung verbessert wird.
Im Gegenteil, sie können eher dazu führen, dass Menschen möglicherweise auch aufgrund von Angst vor Zwangsmaßnahmen keine Hilfen in Anspruch nehmen.
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat nun eine Entscheidung zur Frage getroffen, ob außerhalb eines Krankenhauses Zwang angewendet werden können sollte (das Urteil findet ihr hier). Dabei wird argumentiert, dass die stationäre Aufnahme gesundheitlich belastend wäre, wobei die eigentliche gesundheitliche Beeinträchtigung durch die Zwangsmaßnahme selbst nicht in die Argumentation einfließt.
Antidepressiva und Neuroleptika können zu Nebenwirkungen, erheblicher Gewöhnung und zu Absetzerscheinungen führen. Deshalb ist eine partizipative Entscheidungsfindung auch für eine gelingende Behandlung notwendig.
Eine mögliche Ausweitung der Zulässigkeit ärztlicher Zwangsmaßnahmen außerhalb der Klinik war auch Gegenstand der Evaluierung des § 1832 BGB (den Bericht findet ihr hier). Die Studie empfiehlt keine Änderung der bestehenden Rechtslage.
Es bestehen erhebliche Defizite in der Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen, insbesondere von schwer und chronisch psychisch Kranken.
Menschen mit psychischen Erkrankungen sind außerdem überproportional häufig von tödlichen Polizeieinsätzen betroffen. Beides lässt sich nicht durch die Ausweitung von Zwang oder die Einführung von ambulanten Behandlungsweisungen lösen, sondern durch vielfältige Maßnahmen unter anderem durch frühzeitige niedrigschwellige und gut vernetzte Hilfen. Wichtig: Es geht ausschließlich um die Anwendung von Zwangsmaßnahmen im Rahmen der Versorgung und Behandlung, nicht um das Ordnungsrecht der Polizei.
Die Überführung des Globalbudget in die Regelversorgung und grundsätzlich die Ausweitung von gut evaluierten aufsuchenden und ambulanten Hilfen wie die stationsäquivalente Behandlung oder Assertive Community Treatment (ACT) auch im Rahmen von Modellvorhaben nach §64b sind sinnvolle Maßnahmen für eine bessere Versorgungslandschaft. Selbstverständlich dürfen sie nicht durch eine mögliche Ausweitung von Zwang konterkariert werden.
Das Verfassungsgericht gibt nun dem nächsten Deutschen Bundestag bis Ende 2026 die Aufgabe, die Bedingungen für Zwangsanwendungen im Rahmen psychiatrischer, medizinischer und pflegerischer Maßnahmen zu regulieren. Bis dahin bleibt die geltende Rechtslage erhalten. Eine sehr große und sehr wichtige Aufgabe. Eine Ausweitung von Zwang darf es nicht geben. Stattdessen sollte die vorhandene Evidenz zur Vermeidung von Zwangsmaßnahmen umgesetzt werden.
Es bedarf insgesamt einer Stärkung des Gewalt- und Missbrauchsschutzes für Patient*innen der stationären Psychiatrie und den Einsatz eines Monitoringsystems zur flächendeckenden Dokumentation aller Zwangsmaßnahmen im psychiatrischen Hilfesystem, um Transparenz herzustellen und Möglichkeiten zur Reduktion von Zwangsmaßnahmen aufzuweisen.
Es ist wichtig, niedrigschwellige Unterstützungsangebote auszubauen und sicherzustellen, dass die Rechte der Betroffenen respektiert werden. Zwang darf niemals die Antwort für die Engpässe in der Versorgung sein. Stattdessen sollten die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention, Selbstbestimmung und Wahlfreiheit im Mittelpunkt stehen.
Mehr Infos zum Thema findet ihr hier:
WHO & UN (2023): Mental health, human rights and legislation: guidance and practice.
Aktion Psychisch Kranke (2024): Position der Aktion Psychisch Kranke e. V. zur (ambulanten) Zwangsbehandlung und Zwangsvermeidung.
Betreuungsgerichttag e.V. (2024): Positionspapier zur aktuellen Diskussion über ärztliche Zwangsmaßnahmen im Betreuungsrecht.
Aktion Artikel 16: Menschenrechte in der Psychiatrie.
Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages (2024): Ambulante Behandlungsweisungen in der psychiatrischen Versorgung. Aktuelle Studien zur Evidenz.