Demokratie und seelische Gesundheit ist ein zentrales Thema unserer Zeit. Demokratie und seelische Gesundheit war das Thema der Jahrestagung der Aktion Psychisch Kranke (APK) – aus Gründen! Die APK setzt sich seit 50 Jahren, seit der historischen Psychiatrie-Enquête für eine menschenrechtsbasierte Psychiatrie und gute psychische Hilfen ein – besonders für die schwer und chronisch psychisch Kranken. Es ist mir eine große Ehre ihre Vorsitzende zu sein.

Unsere Jahrestagung 3./4.11.2025 fand in einem Jahr zwei historischer Wegmarken statt. Hier können die Gedanken, die ich in meiner Eröffnungsrede skizziert habe, nachgelesen werden:

APK

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Rückblick: 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs

2025 – vor 80 Jahren endete der Zweite Weltkrieg.

Es war die Befreiung vom nationalsozialistischen Terror. Doch in der Medizin, besonders in der Psychiatrie, blieben viele Strukturen bestehen.

In den Chefetagen saßen dieselben Männer wie zuvor – Männer, die Teil eines menschenverachtenden Systems gewesen waren. Und auch nach 1945 starben psychisch Kranke in Kliniken – nicht mehr durch gezielte Tötung, aber an Entkräftung, an Arbeit und Mangelernährung.

Der Geist des Sozialdarwinismus lebte fort.

1971 setzte der Bundestag schließlich eine Enquête-Kommission ein. Vier Jahre später, 1975 – also vor 50 Jahren – wurden die Ergebnisse veröffentlicht.

Diese Psychiatrie-Enquête war ein erkämpfter Bruch mit der menschenverachtenden Tradition des Faschismus.

Sie war ein Aufbruch: weg von den großen Anstalten, weg von Entmündigung, hin zu einer menschlicheren, offeneren, demokratischeren Psychiatrie.

Und Schritt für Schritt wurde sie das auch.

50 Jahre später: neue Herausforderungen

Doch heute, 50 Jahre nach der Enquete, stehen wir vor neuen Herausforderungen.

Über Jahrzehnte war es der gesellschaftliche Blick von außen, der die Psychiatrie menschlicher und demokratischer gemacht hat – nicht zuletzt durch die Stimmen von Erfahrungsexpert*innen, Angehörigen und auch der Aktion Psychisch Kranke.

Die Gesellschaft verstand zunehmend: psychisch Kranke – das sind nicht „die Anderen“.

Das sind wir alle. Jede und jeder kann betroffen sein, in jedem Alter, in jedem Beruf, in jeder Lebenssituation.

Die Gegenwart: eine Gesellschaft unter Druck

Und heute?

Wir erleben eine Gesellschaft, die geprägt ist durch eine Zunahme von Unsicherheit, Entsolidarisierung, autoritären Haltungen.

Wir sehen Ausgrenzung – und eine gefährliche Wiederkehr von Denkweisen, die wir überwunden glaubten, die drohende Faschisierung ist real.

Trumpismus ist kein fernes Phänomen, nicht nur ein Despot im Weißen Haus, es ist eine globalen Entwicklung, die auch bei uns spürbar ist.

Wenn wir mit offenen Augen durch die Welt gehen, sehen wir bedrohliche Entwicklungen, die die seelische Gesundheit massiv beeinflussen:

  • die Klimakrise,
  • die sozialen und psychischen Folgen der Pandemie,
  • wachsende Einsamkeit,
  • Kriege innerhalb und außerhalb Europas,
  • und zunehmenden Autoritarismus.

All das beeinflusst seelische Gesundheit massiv – lange bevor jemand in einer psychiatrischen Einrichtung ankommt.

Gesundheit entsteht im Alltag – und Krankheit auch.

Psychiatrie in einer unsolidarischen Gesellschaft

Hinkte lange die Psychiatrie der Gesellschaft hinterher, so droht sich das Verhältnis umzukehren.

Eine kälter, ungeduldigere, ausgrenzender werdende Gesellschaft bedroht die Seelen und bedroht die Grundlagen unserer Arbeit.

Wir erleben, dass psychisch erkrankte Menschen wieder zu Sündenböcken gemacht werden.

Wir hören Forderungen nach Registern, nach Kontrolle, nach Ausgrenzung.

Gleichzeitig wächst die Einsamkeit.

Wohnungsnot nimmt zu, soziale Bindungen zerbrechen.

Fast die Hälfte der Menschen in Deutschland lebt heute allein.

Und in genau diese Gesellschaft sollen Menschen mit psychischen Erkrankungen „integriert“ werden – in eine Welt, die sich selbst zunehmend vereinzelt.

Wir erleben Gewalt in Einrichtungen, überforderte Teams, Personalmangel.

Wir entlassen Patientinnen und Patienten ohne Wohnung in die Obdachlosigkeit.

Wir wissen: Das ist keine gute Versorgung. Aber wir tun es, weil die Strukturen um uns herum versagen.

Psychiatrie und Demokratie

Genau hier berühren sich Psychiatrie und Demokratie.

Denn Demokratie bedeutet mehr als Wahlen und Meinungsfreiheit.

Demokratie heißt Teilhabe – dazugehören, mitreden, sichtbar sein.

Und genau das verlieren viele psychisch erkrankte Menschen gerade.

Darum reicht es nicht mehr, nur über psychiatrische Versorgung zu sprechen.

Wir müssen über Gesellschaft sprechen – über Solidarität, Sicherheit, Zugehörigkeit.

Teilhabe ist keine Therapie. Sie ist eine politische Aufgabe.

Eine politischere Psychiatrie

Wenn wir das ernst nehmen, muss Psychiatrie wieder politischer werden.

Wir setzen uns fortgesetzt ein für eine Verbesserung der Versorgung  – für die Entfristung der Modellprojekte nach § 64b, für die Stärkung von PIAs, darüber dass Angehörige angehört und Betroffene auf allen Ebene von Versorgung einbezogen gehören.

Aber wir müssen auch über Armut sprechen. Die soziale Schere. Denn wir wissen nicht nur Armut macht krank und Krankheit macht arm, sondern in Gesellschaften mit hoher Spreizung zwischen arm und reich ist die seelische Gesundheit stärker gefährdet.

Wir müssen sprechen über Wohnungslosigkeit.

Über die Folgen der Klimakrise und über Klimaschutz.

Und über den Schutz unserer Demokratie.

Nicht parteipolitisch – aber mit klarer Parteinahme für die, die Sicherheit und Zugehörigkeit verlieren.

Für eine solidarische Gesellschaft

Demokratie ist nichts, was einfach da ist.

Sie lebt davon, dass wir sie gestalten – gemeinsam, solidarisch, wachsam.

Eine solidarische Gesellschaft schafft die besten Voraussetzungen für seelische Gesundheit.

Und eine Psychiatrie, die sich für Solidarität einsetzt, stärkt zugleich die Demokratie.

Lasst uns also gemeinsam eintreten für eine Psychiatrie, die Teil einer menschlichen, demokratischen Gesellschaft ist.

Lasst uns die Stimme erheben – für diejenigen, die oft übersehen werden.

Und lasst uns unseren Einsatz verdoppeln – für eine Gesellschaft, in der keine Person ausgegrenzt wird, weder wegen ihrer Herkunft noch wegen ihrer Krankheit.

Denn nur in einer solidarischen Gesellschaft kann auch die Psychiatrie wirklich heilen!